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Die 10 Phasen des deutschen Heilerwesens


Eine wechselvolle Geschichte mit offenem Ausgang

  • Die Entfesselung.
    Ab 1873 besteht im gesamten Deutschen Reich eine nahezu grenzenlose "Kurierfreiheit" auch für nichtärztliche Heilkundige. Daraufhin kommt es zu einem sprunghaften Anstieg von hauptberuflichen Laienbehandlern. Ärztliche Standes- vertretungen laufen beharrlich Sturm gegen den Wildwuchs - und setzen sich schließlich durch:
  • Die HPG-Depression.
    Im Februar 1939 verabschiedet der Deutsche Reichstag das "Heilpraktikergesetz" (HPG). Nach Kriegsende übernimmt es die Bundesrepublik unverändert - und folgt dem Naziregime im Bemühen, Heiler in die Illegalität zu zwingen. In den folgenden Jahrzehnten sorgen Gerichtsurteile sogar noch für eine verschärfte Anwendung: Nach der sogenannten "Eindruckstheorie" macht sich ein Heiler unabhängig von seinen Intentionen, seiner Gesinnung, seinen Erfolgen, der Unschädlichkeit seines Tuns allein schon dadurch strafbar, dass Hilfesuchende den "Eindruck" gewinnen können, er führe an ihnen eine Heilbehandlung durch.
  • Das Gröning-Zwischenhoch.
    In den fünfziger Jahren macht Bruno Grönings Wirken das Geistige Heilen eine Zeitlang zu einem öffentlichen Faszinosum: Zehntausende suchen seine Hilfe, Presse und Rundfunk schlachten das Phänomen aus. Als Gröning, verbittert und zermürbt von einer Prozessflut sowie Anfeindungen durch die Interessenvertretungen anerkannter Heilberufe, 53jährig 1959 stirbt, lässt auch das allgemeine Interesse an der Heilweise nach, für die er damals wie kein zweiter stand.
  • Der Edwards-Impuls.
    Inspiriert von der englischen Heilerbewegung um Harry Edwards, entstehen in den sechziger Jahren auch in Deutschland die ersten Heilervereine: die "Deutsche Vereinigung für Geistheilung" (DVGH), bald darauf die "Gemeinschaft für geistige Entfaltung". Doch mehr als ein geselliges Miteinander von Menschen, die zuvor sozial isoliert und im Verborgenen praktiziert hatten, bringen sie nicht zuwege: Die rechtlichen Restriktionen bestehen unvermindert fort.
  • Die Esoterisierung.
    Von der zweiten Hälfte der sechziger Jahre an schwappt eine neue "Esoterikwelle" aus dem angelsächsischen Raum nach Deutschland über - und erfasst rasch auch das Heilerwesen, in dem zuvor christliche Handaufleger, Gebetsheiler und Besprecher überwogen. Aus anderen Kulturkreisen dringen neue, exotische Behandlungsformen mit publikumswirksamen Vertretern zu uns: von philippinischen "Logurgen" über Schamanen aus Afrika, Zentralasien und Ozeanien bis hin zu Qi-Gong-Meistern aus China, Propagandisten von Reiki, Prana-Heilen, Chakratherapie und anderen "energetischen" Behandlungsformen. (Zu deren Kritik s. Das Große Buch vom Geistigen Heilen, Geistheiler - Der Ratgeber sowie Fernheilen, Band 1: Die Vielfalt der Methoden, s. „Infos“) Sie alle lassen sich der Vision eines New Age voller spirituell entfalteter, ihr unermessliches geistiges Potential freisetzender Individuen unterordnen, das die Verheißung einschließt: In jedem von uns steckt ein Heiler, der bloß darauf wartet, erweckt zu werden. Die ersten Ausbildungseinrichtungen entstehen - und beginnen, für bis zu fünfstellige Kursgebühren innerhalb weniger Wochen oder Monate, Abertausende von "Heilern" eines neuen Typus zu produzieren.
  • Durchbruch zur Massenattraktion.
    Von den neunziger Jahren an sorgen Großveranstaltungen wie die Basler "Weltkongresse für Geistiges Heilen", Esoterikmessen in beinahe jeder größeren Stadt und bestsellernde Buchproduktionen dafür, dass Geistiges Heilen über die "Szene" hinaus öffentliche Aufmerksamkeit findet wie seit Grönings Zeiten nicht mehr. Erneut, und diesmal noch eifriger, greifen Massenmedien - insbesondere vom journalistischen Boulevard und den neuen Privatsendern - das Phänomen auf, präsentieren Behandlungssensationen und Wunderheiler, machen den "Therapieresistenten" des konventionellen Medizinbetriebs Hoffnung. Das zeigt Wirkung: Einer 1992 durchgeführten Repräsentativumfrage zufolge würden sich 65 Prozent aller Westdeutschen über 16 Jahren auf einen Heiler einlassen, falls sie schwer erkranken und Ärzte nicht mehr weiterwissen. Die wachsende Nachfrage trifft auf eine sprunghaft steigende Zahl von zunehmend jüngeren, unerfahrenen "Heilern", über denen allerdings weiterhin das Damoklesschwert des HPG schwebt; ihr Organisationsgrad ist nach wie vor niedrig, in Deutschland arbeiten mehrere Dutzend Heilervereine eher neben- und gegen- als miteinander.
  • Gescheiterte Selbstreinigung.
    Mitte der neunziger Jahre entsteht ein "Dachverband Geistiges Heilen" (DGH), mit dem Ziel, die verstreuten Kräfte zu bündeln. Doch der Versuch, zumindest einen Großteil der bestehenden Vereine, vor allem die bedeutendsten und traditionsreichsten, mit ins Boot zu holen, schlägt fehl. Stattdessen wandelt sich die Einrichtung von einem Zusammenschluss von Interessenvertretungen zu einer Heilergewerkschaft, die in erster Linie zahlende Einzelmitglieder zu gewinnen sucht. Dazu wird ein "Info-Dienst" eingerichtet, der Mitgliedern notleidende Kundschaft zuschleust, sowie ein Prüfungswesen installiert, das Mitgliedern, gegen Bezahlung, leichten Zugang zu werbewirksamen Titeln und Urkunden verschafft ("Anerkannte/r Heiler/in"). Statt den Wildwuchs der Heilerszene zu beschneiden, wird er somit weiter verschärft, der Dachverband zum Teil des Problems, das er lösen sollte.
  • Höchstrichterliche Schleusenöffnung.
    Im März 2004 befreit das Bundesverfassungsgericht Geistheiler von dem Zwang, eine Heilpraktikerprüfung beim zuständigen Gesundheitsamt abzulegen - und restauriert damit faktisch die "Kurierfreiheit" des Deutschen Reichs, mit vergleichbaren Konsequenzen. Der Angst vor behördlicher Schikane und Strafverfolgung entledigt, trauen sich immer mehr Selbstberufene, das Heilen zur Profession zu machen und offensiv Werbung zu treiben, statt sich verstecken zu müssen. Das boomende Internet eröffnet ihnen ein neues, breitenwirksames Mittel zur billigen Selbstdarstellung. Unter dem Nachfragedruck von Patienten, in der Hoffnung auf Wettbewerbsvorteile und angetan von der Vision einer “spirituellen”, “energetischen” Medizin öffnen sich zunehmend auch Angehörige etablierter Heilberufe für Geistiges Heilen; handauflegende Ärzte bringen auch manchen Skeptiker ins Grübeln. Der Boom erreicht seinen Höhepunkt. Mit einem rigiden Werbeverbot für Geistheiler stärkt das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr 2007 faktisch die unselige Rolle der Szeneverbände und -schulen, insbesondere jener, die Mitgliedern bzw. Absolventen Patienten vermitteln: Je zurückhaltender Heiler bei der Kundensuche sein müssen, desto dringender sind sie auf solche Serviceleistungen angewiesen - zumindest jene, denen Mundpropaganda die Praxis nicht ausreichend füllt.
  • Beginnender Niedergang.
    Mitte des ersten Jahrzehnts nach der Milleniumswende beginnt das Medieninteresse spürbar nachzulassen, die Besucherzahlen von Fachkongressen und Messen sinken ebenso abrupt wie die Auflagen von Fachbüchern und Szenezeitschriften; das Thema zeigt medientypische Abnutzungserscheinungen, wie man sie von Aids, dem Waldsterben, dem Ozonloch, der Polarschmelze, dem Rinderwahn, der Vogelgrippe her kennt. (Ebenso erging es anderen "Psi"-Sensationen früherer Tage, von fliegenden Untertassen über psychokinetisch verbogene Löffel und blutigen "psychochirurgischen" Eingriffen bis hin zu Spukhäusern, geometrischen Riesenmustern in reifen Kornfeldern und Jenseitskontakten per Tonband.) Auch patientenseits macht sich Ernüchterung breit: Inzwischen haben Hunderttausende von chronisch Kranken frustrierende Erfahrungen in der Heilerszene gemacht - das spricht sich herum. Die explosionsartig gestiegene Konkurrenz sorgt bei immer mehr Heilern für leere Praxen; die Werbewirkung von erworbenen Lizenzen, Diplomen und Titeln lässt nach, weil zuviele Mitbewerber sie ebenfalls ergattert haben und zum Kundenfang einsetzen. Heilerschulen beklagen einen rapiden Preisverfall, nach den Gesetzen der freien Marktwirtschaft erzwungen durch ein Überangebot an Mitbewerbern. (So sind Reiki-”Einweihungen”, für welche in den siebziger und achtziger Jahren noch umgerechnet über zehntausend Euro verlangt und bezahlt wurden, mittlerweile für einen Hunderter zu erkaufen.)
  • Am Scheideweg.
    Geistiges Heilen schickt sich an, zum Wellness-Ritual einer neoreligiösen Subkultur zu verkümmern, ins soziale Abseits der Esoterikgemeinde zurückzukehren - es sei denn, es gelingt, auf eine auch für Außenstehende nachvollziehbare und glaubwürdige Weise jene therapeutische Qualität sicherzustellen, die ihm in den vergangenen vierzig Jahren abhanden gekommen ist. An der Resonanz auf das IVH-Projekt wird ablesbar sein, ob es dafür nicht schon zu spät ist.

Aus H. Wiesendanger, Heilen „Heiler“? Ein Wegweiser für Hilfesuchende. Lea Verlag: Schönbrunn 2008

Hintergründe


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